Temperament
Sich und andere besser verstehen: Die vier Temperamente
Warum gibt es immer wieder über ähnliche Themen Konflikte zwischen mir und meiner Kollegin? Welcher Job passt zu mir? Was ist ein guter nächster beruflicher Schritt? Wie kann ich mein Team gut besetzen? Diese und andere Fragen beschäftigen uns häufig. Im Kern geht es darum, sich selbst und andere besser zu verstehen, um gute Entscheidungen zu treffen. Impulse hierfür kann uns die Arbeit mit Persönlichkeitstypologien geben. Ein recht populäres Konzept, die vier Temperamente, stelle ich hier vor, skizziere mögliche Anwendungen im persönlichen und beruflichen Kontext und stelle dies am Beispiel Teamarbeit dar.
Die vier Temperamente – eine alte Idee mit moderner Anwendung
Aus der Antike stammt die Idee der Temperamente. Diese werden verstanden als Grundausrichtungen eines Menschen, die sich unterscheiden durch die jeweils bevorzugten Arten des Denkens, Fühlens und Handelns. Sie sind ein Teil der Persönlichkeit, die weitere Aspekte umfasst. Der griechische Arzt Hippocrates entwickelte aus seiner Lehre der vier Säfte die Grundtypen der vier Temperamente Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker. Basierend auf seinen Beobachtungen menschlichen Verhaltens entwarf der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung Anfang des 20. Jahrhunderts wiederum seine Typenlehre. Daraus entstanden in der Folge zahlreiche weiterentwickelte Konzepte. Insbesondere der Myers-Briggs Type Indicator (MBTI)[1] trug zur Popularisierung der Jung’schen Gedanken bis in die heutige Zeit bei.
Zwar erfreut sich der MBTI großer Beliebtheit. Die Arbeit mit den 16 Typen weist jedoch eine gewisse Komplexität auf und bedarf einer vertieften Beschäftigung mit dem Modell. Hier kommen die vier Temperamente des Psychologen David Keirsey ins Spiel. Er entwickelte vier Grundtypen der Persönlichkeit, die vier Temperamente. Diese korrespondieren einerseits mit zwei bzw. drei Dimensionen des MBTI[2] und andererseits mit den Ideen der Temperamente, wie wir sie aus der griechischen Antike kennen. Durch die Konzentration auf vier Temperamente (Typen) hat Keirsey ein Konzept entwickelt, das einerseits hilfreiche Erkenntnisse über menschliches Verhalten bietet und andererseits recht schnell erlernbar ist. Dadurch ermöglicht es eine einfache Anwendung in der Praxis.
Was sind die wesentlichen Aussagen des Konzepts der vier Temperamente[3]?
· Das ‚Temperament‘ beschreibt, welche Verhaltenstendenzen Menschen dieses Persönlichkeitstyps haben. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus gezeigtem Verhalten (z.B. Kommunikationsmuster) und charakteristischen Haltungen, Werten, Bedürfnissen und Talenten.
· Alle Temperamente sind gleich wertvoll, denn jedes hat „typische“ Stärken und Entwicklungsbereiche.
· Menschen können grundsätzlich alle in den vier Temperamenten beschriebenen Verhaltenstendenzen zeigen. Sie haben jedoch eine natürliche Präferenz für ein Temperament, eben ihr Temperament. Wenn sie sich gemäß „ihrem Temperament“ verhalten können, erleben sie sich als energievoll.
· Die Kenntnis des eigenen Temperaments erlaubt Hypothesen über eigene gute Entwicklungsmöglichkeiten (z.B. im Beruf). Weiterhin ermöglicht das recht intuitive Instrument der vier Temperamente auch ein besseres Verständnis von Interaktionsmustern (z.B. Konflikt).
· Wichtig: Die vier Temperamente sind eine bewusst grobe Annäherung an das komplexe Phänomen der menschlichen Persönlichkeit. Das Konzept versteht sich als Indikator, d.h. es handelt sich lediglich um Annahmen über mögliches Verhalten. Daneben gibt es weitere Faktoren, die unser konkretes Verhalten beeinflussen (z.B. die Umwelt, persönliche Erfahrungen, individuelle Ziele).
Die vier Temperamente kurz erläutert
Die Idee der vier Temperamente von Keirsey basiert auf den zwei Dimensionen, Kommunikation und Art der Zielverfolgung.
· Ausgangspunkt der Ideen von Keirsey ist die Wahrnehmungsdimension nach C.G. Jung, der zwischen Sensitiv (S) und iNtuitiv (N) unterscheidet. Dies beeinflusst nach Keirsey das jeweils präferierte Kommunikationsverhalten (‚communication‘). Menschen mit einer Präferenz für ‚S‘ kommunizieren bevorzugt über Konkretes (‚concrete‘), also reale Dinge und Phänomene. ‚iNtuitive‘ (N) Menschen präferieren die abstrakte (‚abstract‘) Kommunikation, d.h. Holistisches, Theorien, Fantasien.
· Die zweite Dimension repräsentiert die Dimensionen F – T bzw. J – P im MBTI. Nach Keirsey unterscheiden sich Menschen in zweiter Linie bzgl. der Art, wie sie ihre Ziele verfolgen (‚action‘). Kooperative Menschen (‘cooperative’) agieren in erster Linie in sozial akzeptierter Art und Weise. Utilitaristen (‚utalitarian‘) hingegen orientieren ihre Handlungen an der möglichst effektiven Art, eigene Ziele zu erreichen.
Daraus ergeben sich die folgenden vier Temperamente[4]:
Temperament (Keirsey)
Temperament MBTI
Charakterisierung
Rationals
NT
Rationals bevorzugen abstrakte Kommunikation (N) und verfolgen eigene Ziele effektiv (T). Ihre Stärke ist die strategische Intelligenz. Sie wollen verstehen und streben nach Kompetenz. Sie lieben es, Projekte/Ideen zu initiieren, sind jedoch weniger an deren kontinuierlicher Verfolgung interessiert.
Idealists
NF
Idealists kommunizieren abstrakt (‚N‘) und sind kooperativ in der Zielverfolgung (‚F‘). Sie sehen die Möglichkeiten in Institutionen und Menschen, suchen nach Bedeutung und Einzigartigkeit und sind beziehungsorientiert. Sie kommunizieren wertschätzend, versuchen andere zu verstehen und schaffen Harmonie. Ihre große Stärke ist diplomatisches Geschick in menschlichen Beziehungen.
Guardians
SJ
Guardians kommunizieren konkret und verfolgen ihre Ziele kooperativ. Ihr Fokus liegt auf Fakten und Details (S) und sie präferieren ein geplantes, organisiertes Leben (J). Sie haben eine Tendenz, Ordnung und Struktur zu geben und übernehmen gerne Verantwortung. Sie verstehen sich als Bewahrer von Stabilität und Tradition. Ihre Stärke ist die logische Intelligenz.
Artisans
SP
Artisans kommunizieren konkret und verfolgen ihre Ziele effektiv. Sie bevorzugen den Umgang mit konkreten Dingen und Problemen (S) und sind offen und flexibel (P). Sie brauchen Freiraum und suchen nach Abwechslung und Abenteuer. Ihre Stärke ist die taktische Intelligenz, denn sie sind handlungsorientiert im Hier und Jetzt.
Themen, für die die vier Temperamente hilfreich sein können
Die Auseinandersetzung mit den vier Temperamenten, deren Bedürfnisse, Stärken und Entwicklungsmöglichkeiten, ergeben sich unterschiedliche Anwendungsgebiete. Hier einige Beispiele:
· Karriere-Fragen (z.B. „passender“ Job, nächster Karriereschritt, Rahmenbedingungen der Arbeit)
· Persönlichkeitsentwicklung
· Coaching
· Teamentwicklung
· Projektarbeit
· Führung
· Interaktion in der Familie/Partnerschaft
Ein Beispiel: Effektive Teamarbeit mit den vier Temperamenten
Teamarbeit bietet viele Vorteile. Verschiedene Fähigkeiten und Erfahrungen ergeben im Team mehr als die Summe der einzelnen Fähigkeiten, Synergien können realisiert werden und Vorteile der Kooperation genutzt werden. Dem können Herausforderungen in Form von weniger individueller Freiraum oder Konflikte zwischen den einzelnen Teammitgliedern entgegenstehen. Das Konzept der vier Temperamente kann eine wertvolle Unterstützung für die effektive Arbeit im Team sein. Beispielsweise könnte ein Scrum Master das Konzept in seinen Scrum Teams einführen, indem er es zunächst vorstellt und die einzelnen Teammitglieder ordnen sich einem Temperament zu. Dann erörtern die Teammitglieder die jeweiligen Stärken und überlegen gemeinsam, inwiefern diese der Arbeit im Team zu Gute kommen können, wo es blinde Flecken geben könnte oder wo potenzielle Konflikte lauern und wie man diesen proaktiv begegnen kann.
Hilfreiche Fragen könnten sein:
· Welche Temperamente sind im Team vertreten? Z.B. Wer kümmert sich darum, das langfristige Ziel (-> N) im Auge zu behalten und wer um das Tagesgeschäft
· Falls das Team aus ähnlichen Temperamenten besteht: Welche Temperamente fehlen und wo sind folglich unsere blinden Flecken? Wie können wir diese adressieren?
· Wenn im Team sehr unterschiedliche Temperamente vertreten sind: Wie können wir effektiver zusammen arbeiten? Welche Stärken haben andere? Wo können Konflikte entstehen?
Fazit
Das Konzept der vier Temperamente kann ein hilfreiches Instrument bei unterschiedlichen Fragestellungen menschlicher Entwicklung und Interaktion sein. Es hat keineswegs den Anspruch, die Komplexität menschlichen Verhaltens vorherzusagen. Vielmehr stellt es eine Art Grundstruktur dar, mit deren Hilfe die Komplexität menschlichen Verhaltens reduziert und handhabbar gemacht werden kann. Daraus lassen sich dann wertvolle Impulse zum Verständnis eigener Verhaltensmuster und zur gelingenden Interaktion mit anderen ableiten.
In meiner Arbeit als Coach erlebe ich es immer wieder, dass dieses Denkmodell meinen KlientInnen wertvolle Orientierung gibt und gute Impulse für vertrackte Situationen bietet. Nicht mehr und nicht weniger leistet das Modell. Probiere es einfach aus!
Melanie Schumacher arbeitet als selbständiger systemischer Coach, Karriereberaterin und Senior Beraterin für das syspo excellence Netzwerk. Sie ist u.a. Zürcher Ressourcen Modell (ZRM)-Coach und war früher in einer Wissenschaftsorganisation und einer Managementberatung tätig. Sie lebt und arbeitet in Bonn.
Weiterführende Literatur:
Kroeger, O./Thuesen, J./ Rutledge, H., 2002, Type Talk at Work, S. 51 – 59.
Keirsey, D./Bates, M., 1990, Versteh’ mich bitte.
http://www.keirsey.com (Offizielle Webseite)
[1] Da dieser Artikel die vier Temperamente nach Keirsey behandelt, wird im Folgenden nicht vertieft auf den MBTI eingegangen.
[2] Der MBTI umfasst vier Dimensionen, die jeweils zwei Ausprägungen aufweisen: 1. Dimension: Extraversion (E) – Introversion (I); 2. Dimension: Sensitiv (S) – iNtuitiv (N); 3. Dimension: Denken (T) – Fühlen (F); 4. Dimension: Bewerten/Judging (J) – Beobachten/Perceiving (P)
[3] Im Folgenden wird vereinfacht von den vier Temperamenten gesprochen. Darunter verstehen wir die vier Basis-Temperamente nach Keirsey. Das gesamte Konzept wurde verfeinert und besteht in Gänze – wie der MBTI – aus 16 Typen.
[4] Aufgrund der Nähe zum MBTI, der wiederum recht bekannt ist, wird hier zusätzlich zur „Temperamentbezeichnung“ nach Keirsey das Pendant im MBTI aufgeführt.
Autorin: Melanie Schumacher
Senior Coach bei syspo excellence