Kein Chef
Wer kennt die Situation nicht.
Nach einem mäßig erfolgreichen Meeting mit seinem Chef geht man erstmal in die Kaffeeküche und drückt auf die Taste. Während die Bohnen mahlen läuft vor dem inneren Auge nochmal der Film des Meetings ab. Man fühlt sich nicht einbezogen, zum Befehlsempfänger degradiert. Eigene Ideen, Sichtweisen und Ansätze wurden nicht wirklich berücksichtigt. Man fühlt sich nicht verstanden. Aus der eigenen Sicht der Dinge lief das Meeting nach dem Schema ab: Er Chef, ich nix.
Irgendwie ist es verzwickt. Man kommt auf keinen gemeinsamem Nenner. Den Kollegen geht es ähnlich.
Nun ist ja so eine Kaffeeküche ein phantastischer Ort. Morgens ist es der Treffpunkt bevor der PC hochgefahren wird. Es duftet gut, ist heimelig und irgendwie ein Refugium im Arbeitsalltag. Gleich ob im Büro oder im Friseurladen. Hier wird nicht nur Kaffee, sondern auch das ein oder andere Gerüchte gekocht. Und: es finden manch skurrile Ideen ihren Ursprung.
„Was wäre, wenn ich gar keinen Chef mehr hätte?“
Hm, … der Gedanke schmeckt irgendwie. Jeder Schluck Kaffee regt die Phantasie an. Mein Teufelchen auf der rechten Schulter setzt mir Gedanken in den Kopf.
„Ich hab keinen mehr über mir, der mir sagt, was ich tun soll? Cool! „Ich kann selber kreativ sein? Na endlich!“ „Die Deadlines für Angebotsabgaben oder Präsentationen lege ich selbst fest? Langes Wochenende, ich komme!“
Wow, das fühlt sich nach lang herbeigesehnter Freiheit an. Nach Leichtigkeit, keine Zwänge mehr. Nochmal kurz überlegt: „Alles klar, nehm ich! Wo muss ich unterschreiben?“ Und als ich diesen Gedanke zu Ende bringe schwant es mir. Ist das nicht zu einfach? Wo ist der Haken? Wenn es in solchen Geschichten das Teufelchen gibt, dann ist das Engelchen nicht weit, denke ich. Ich seh zwar keines, aber irgendetwas in mir lässt dennoch Zweifel aufsteigen. „Wenn es keinen Chef mehr gibt, wer zieht denn die Aufträge an Land und sichert somit mein Gehalt. Wer vertritt unsere Abteilungsinteressen gegenüber den anderen Unternehmensbereichen? Wer steht beim Vorstand gerade, wenn mal was verbockt wurde. Wer besänftigt unzufriedenen Kunden. Wer gibt Orientierung, wenn nicht klar ist wohn die Reise gehen soll. Wer hat in Zukunft die Antworten auf die unangenehmen Fragen parat? Auf jede, immer?!“
Puh, … ein ganz schöner Rucksack. Muss ich dann diese Aufgaben übernehmen? Oder meine Kollegen? Oder wir gemeinsam? Fühlt sich irgendwie gar nicht mehr so leicht und frei an. Mit dem letzten Schluck aus dem Kaffeebecher verabschiedet sich auch meine vermeintlich revolutionäre Idee und die Lösung des „Chef-Mitarbeiter“ Dilemmas. Die weniger gut schmeckende Einsicht lautet: ohne Chef geht es also auch nicht. Blöd, …!
Aber ich gebe nicht auf.
So verzwickt und festgefahren wie es jetzt ist kann es ja nicht bleiben. Mir schießt die Frage in den Sinn: „Kann es vielleicht sein, dass sich am andere Ende des Ganges im Büro des Chefs eine ähnliche Szene abgespielt hat? Dass er sich vielleicht denkt. „Mir hört keiner zu. Die machen einfach nicht was ich sage. Dann kommen die auch noch immer mit eigenen Ideen an. Wer schmeißt denn hier den Laden? Am liebsten würd ich alles selber machen, dann weiß ich wenigstens, dass es erledigt ist. Irgendwie verstehen die mich nicht.“ Für die Chefs unter den Lesern: Hört sich vertraut an, oder?
Aber wieso ist das so?
Beide Seiten fühlen sich jeweils unverstanden. Überspitzt formuliert glauben beide, dass es ohne den jeweils anderen Part leichter wäre. Aber im Innersten weiß man, dass das nicht stimmt. Das ist das Dilemma. Die Konsequenz daraus ist, dass die Firma unter ihren Möglichkeiten bleibt und nicht das volle Potential ausschöpft und die Menschen, die in dieser Firma arbeiten dies mit angezogener Handbremse tun.
Was braucht es um eine Lösung für dieses Dilemma herbeizuführen?
„Ja, korrekt“ kann ich denjenigen entgegenbringen, die auf diese Frage mit „…da braucht es einen vielschichtigen Lösungsansatz…“ antworten. Aber drei Dinge sind auf diesem Lösungsweg unabdingbar. Zeit, wirkliches Zuhören und die Bereitschaft miteinander in Kontakt zu treten.
Zeit deshalb, weil ich gute Gespräche nicht auf dem Gang oder in gehetzt abgehaltenen Meetings führen kann. Wohlwollendes und wertungsfreies Zuhören deshalb, weil ich nur dann den anderen mit all seinen Absichten verstehen kann. Und die Bereitschaft miteinander in Kontakt zu treten deshalb, weil nur die ernsthafte Absicht, „meine Ideen“ mit „Deinen Ideen“ zu verbinden etwas Tragfähiges entstehen lässt. Das ist genau das Gegenteil von dem was heute oftmals praktiziert wird. Das „downloaden“ oder abladen von Infos von „meiner“ in „Deine“ Richtung. Ohne bereit zu sein daraus etwas Gemeinsames entstehen zu lassen.
Sind wir doch mal ehrlich. Das hat doch schon früher im Sandkasten nicht funktioniert. Oder können Sie sich an eine Situation erinnern, bei der sie die Sandburg nach den Vorstellungen des Nachbarskindes gebaut haben, nur weil er es so wollte. Ohne eigene Mitsprache wie viele Türme es gibt? Und er zwischendurch schaukeln ging? Eben! Da braucht man sich nicht wundern, wenn das auch im Berufsalltag nix wird. Oder wenn die Sandburg halbherzig gebaut wird. Nur weil der eine der Chef ist und der andere es eben machen muss.
Wenn man also
alle drei Komponenten – Zeit, Zuhören, in Kontakt treten – berücksichtigt, dann kann etwas Gemeinsames entstehen, man geht – neu-deutsch – in Co-Creation. Und das ist auch was Menschen wollen. Wir wollen Anschluss haben, miteinander statt isoliert arbeiten. Egal ob Praktikanten, Facharbeiter:Innen oder Top-Manager:innen. Isolation entsteht aber, wenn wir uns nicht zuhören und uns gegenseitig einbeziehen. Wenn jeder für sich arbeitet entsteht auf Dauer Frust. Man müsste die eingangs gestellte „was wäre, wenn…“ Frage abwandeln: „was wäre, wenn sich nach dem Meeting beide auf einen gemeinsamen Kaffee getroffen hätten und einer gefragt hätte „Sag mal ehrlich, wie fandest Du unser meeting?“
Autor: Marco Graf
Senior Berater bei syspo excellence
Systemischer Berater, Systemischer Coach und Organisationsentwickler